Was bedeutet „erlebnisorientiert“?
Diese Frage wird immer wieder gestellt und ich denke immer wieder gern laut darüber nach. Dem Wortlaut nach heißt es, wir orientieren uns am Erleben der einzelnen Personen und an den Erlebnissen der Personen miteinander.
Aus der Gestalttherapie hat Walter Kempler die Arbeit im „Hier und Jetzt“ mitgebracht. Was „Hier und Jetzt“ los ist, was jede*r fühlt, denkt, tut, steht im Fokus. Das Erleben und Handeln ist gemeinsamer Forschungsgegenstand und in diesem aufmerksamen Erleben liegt Entwicklungspotential.
Im Zusammensein erleben alle Beteiligten die Situation verschieden und gestalten zugleich auf dieser Grundlage dieselbe Situation (den selben Moment) gemeinsam. Als Kind habe ich manchmal darüber nachgedacht, ob das Grün für andere genauso, wie für mich aussieht. Heute weiß ich, dass das letztendlich nicht möglich ist herauszufinden; nicht nur rein faktisch, sondern auch weil sogar bei der Wahrnehmung von Farben mit ihnen assoziierte Erfahrungen, Erlebnisse und Gefühle eine Rolle spielen. Aber es ist möglich über dein Grün und mein Grün zu sprechen. Dadurch verstehe ich viel mehr über deine Welt, als wenn ich versuche Kriterien für eine Übereinstimmung zu ersinnen.
In nahen Beziehungen kommt hinzu, dass sich Gewohnheiten bilden. Gewohnheiten im eigenen Handeln, Denken und Fühlen, aber auch darin, die andere(n) Person(en) zu sehen und zu verstehen. Wenn das ganz spezifische Erleben in der konkreten Begegnung Aufmerksamkeit bekommt, nehme ich sowohl mich, als auch die anderen facettenreicher wahr. Der Moment wird meinem Empfinden nach, tiefer und weiter. Wenn ich meine Wahrnehmung und mein Empfinden ausdrücken kann und gehört werde, werde ich für mich und mein Gegenüber deutlicher. Genauso kann ich mich leichter von den Worten der anderen erreichen lassen. Da wo wirklich Berührung und Begegnung ist, entstehen Spuren und so kann Veränderung entstehen.
Auch in einer Beratungssituation tragen alle Beteiligten, Klient*innen und Therapeut*in oder Berater*in, gleichermaßen zu dem momentanen Geschehen bei. Die persönliche Präsenz der Einzelnen und die Verbindung untereinander genauso, wie das Fehlen von Präsenz und Kontakt ermöglichen oder hemmen Prozesse. Der*die Berater*in oder Therapeut*in stehen nicht außerhalb, sondern sind Teil des Zusammenseins. Anders kann es gar nicht sein. Ein Heraustreten existiert nur als künstliches Konstrukt. Selbst wenn die Fachperson Verläufe des Gesprächs zusammenfasst oder auf der Metaebene Kontexte beschreibt, beeinflusst sie mit ihren bewussten und unbewussten Anteilen, mit ihrer authentischen Präsenz oder ihrer Kontaktlosigkeit die Anwesenden.
Genau mit diesem wechselseitigen aktuellen Erleben arbeiten wir in der erlebnisorientierten Familientherapie. Es ist simpel und schwierig zugleich. Fachwissen darf sein, aber ist nicht wichtiger als die Begegnung.
Die eigenen Fähigkeiten sind gleichermaßen bedeutend wie die eigenen Einschränkungen. Unwissen einzusetzen anerkennt die Kompetenz der Klient*innen und verhilft der Fachperson die eigene zu erweitern. Erlebnisorientierte Beratung oder Therapie war dann erfolgreich, wenn sich alle Beteiligten inklusive Fachperson gemeinsam weiterentwickelt haben.
Den bei Walter Kempler zu findenden englischen Begriff “experiential” übersetzt der Duden mit “auf Erfahrung beruhend” oder “erfahrungsbasiert”.
Ich habe noch mal bei Walter Kempler nachgelesen, der die folgende Beschreibung für seinen therapeutischen Ansatz gibt:
„Erlebnisse sind die Bausteine unseres Lebens. Erlebnisse, bei denen es zu Interaktionen mit anderen Menschen kommt (sogenannte “Begegnungen”), sind für die Entwicklung von Fähigkeiten, die wir zur Bewältigung künftiger Erlebnisse brauchen, am wichtigsten. Die Begegnungen, die innerhalb unserer Familie stattfinden – ob damals oder jetzt – fördern und beeinflussen unsere Fähigkeiten am meisten.
Ziel der erlebnisorientierten Familientherapie ist es, die Menschen dazu zu bringen, dass sie im Leben gut zurechtkommen. Der Begriff “erlebnisorientiert” (experiential) soll verdeutlichen, dass die Therapiesitzung selbst das Experimentierfeld ist, auf dem wir neue Erfahrungen machen. Es ist keine Therapie, bei der “über etwas geredet” wird, sondern bei der “gehandelt” wird. Dadurch, dass wir mit der gegenwärtigen Familie arbeiten, dass wir die Art neuer Begegnungen während der Therapiesitzung untersuchen und dass sich der Therapeut als Person voll und ganz in die Gruppe einbringt, schaffen wir die wichtigsten Voraussetzungen für das Erreichen unseres Ziels.
Abgesehen von diesen Grundregeln wird die Therapie auch durch die zahlreichen Facetten jeder einzelnen Persönlichkeit – einschließlich der des Therapeuten – geprägt, die jeden Augenblick der Begegnungen in der Sitzung beeinflussen. Für diese Augenblicke gibt es keine Grundregeln oder Theorien; da gibt es nur Menschen. Wichtig ist nur, wer wir füreinander sind und was wir miteinander tun. Die Hauptklagen, die von den Patienten kommen, sind im Grunde immer dieselben: “au, ich bekomme nicht das, was ich will, und das tut weh.” Abgesehen davon ist jedoch jedes Muster schmerzlich ineinandergreifenden Verhaltens einzigartig.„
Zitat: W. Kempler:“Erlebenisaktivierende* Familientherapie”, Junferman Verl. 1989, Seite 14.
*in der Übersetzung wurde für experiential erlebnisaktivierend statt erlebnisorientiert verwendet
Titelbild: [Mario]/stock.adobe.com